Lothar Veit (EMA)

„Demokratie ist nicht selbstverständlich“

16. November 2023

Schule ist ein Reizthema. Alle sind irgendwann mal hingegangen oder haben Einsichten als Eltern oder Großeltern gewonnen – und können entsprechend mitreden. „Ich vergleiche mich gern mit dem Fußballbundestrainer“, sagt Niedersachsens Kultusministerin Julia Willie Hamburg (Grüne). „Im Zweifel kann es jeder besser.“ Wie wohltuend muss da ihr Besuch in Loccum vor Elternräten aus ganz Niedersachsen gewesen sein. Kritische Fragen gab es auch dort, natürlich. Aber der Ton war sachlich, die Gesprächskultur vorbildlich.

Dem Thema der Tagung war das angemessen: „Demokratie braucht Bildung“. Einmal im Jahr lädt das Religionspädagogische Institut Loccum (RPI) zur Konferenz für Elternvertreterinnen und -vertretern ein. Aktuelle Umfragen belegten, dass das Thema dringlich ist, wie Kultusministerin Hamburg ausführte: „Erschreckenderweise sagen viele, sie glauben nicht mehr an die Demokratie“. Neben vielen weiteren Initiativen will sie deshalb die Mitbestimmung von Schülerinnen und Schülern stärken. „Klassenräte sollte es schon in der Grundschule geben“, sagte die Ministerin. Wichtig sei, dass solche Strukturen in der Schule gut verankert und gelebt würden. „Wenn meine Beteiligung keine Wirkung hat, kann ich es mir auch schenken.“ Solche Erfahrungen müssten vermieden werden.

An die Eltern appellierte sie, den Kindern gute Vorbilder zu sein. „Schule allein kann Kinder nicht motivieren, sich für die Demokratie einzusetzen.“ Dabei gehe es um einen respektvollen Umgang mit den Mitmenschen, aber auch darum, nach Feierabend noch gesprächsbereit zu sein für Fragen der Kinder, die sie aus der Schule mitbrächten. Kinder müssten in die Lage versetzt werden, Lösungen für komplexe Sachverhalte zu finden und produktiv zu streiten.

Mehr Freiraum für die Schulen
Demokratiebildung sei in Krisenzeiten aktueller denn je, sagte Hamburg. So wirke etwa die Erfahrung noch nach, dass während der Corona-Pandemie sehr viele Regeln „von oben“ verordnet worden seien. Andererseits hätten gerade die Pandemie und auch der Ukraine-Krieg gezeigt, dass die Landesregierung sehr schnell auf aktuelle Entwicklungen reagieren könne. Auf die Frage aus der Elternschaft, warum das Kultusministerium nicht in anderen Bereichen genauso schnell sei, sagte die Ministerin, viele Programme in dieser Zeit seien über „Krisenschulden“ finanziert worden. Das lasse sich nicht auf die alltägliche Arbeit übertragen.

Das Ziel der Landesregierung sei es gleichwohl, „einfacher“ zu werden. „Es kann nicht sein, dass Schulen bestehende Regeln unterwandern müssen, um eine gute Schule zu sein“, sagte Hamburg. Deshalb wolle das Land den Schulen mehr Eigenverantwortung übertragen, um individuell auf die Bedürfnisse der Schülerinnen und Schüler eingehen zu können. Ein wichtiger Baustein dafür sei der Freiräume-Prozess, den die Landesregierung auf den Weg gebracht habe. Damit soll unter anderem ein Abweichen von den klassischen Stundentafeln und mehr Projektarbeit ermöglicht werden.
Mehr Freiraum für die Schulen

Monika Oberle, Professorin für Politikwissenschaft und Didaktik der Politik an der Universität Göttingen, hatte zuvor einen umfassenden Überblick über „Demokratiebildung als Schulauftrag“ gegeben. Zentral sei hier das so genannte Überwältigungsverbot, das 1976 im „Beutelsbacher Konsens“ festgeschrieben wurde: „Es ist nicht erlaubt, den Schüler – mit welchen Mitteln auch immer – im Sinne erwünschter Meinungen zu überrumpeln und damit an der Gewinnung eines selbständigen Urteils zu hindern.“ Diese „Neutralität“ müsse allerdings mit dem Grundgesetz vereinbar sein, also mit einem Bekenntnis zur Unantastbarkeit der Menschenwürde, zu den Grundrechten, Demokratie, Pluralismus und Rechtsstaatlichkeit.

Die Kultusministerkonferenz habe 2018 einen Beschluss zur Demokratiebildung gefasst: „Eine rechtsstaatlich verfasste Demokratie ist nicht selbstverständlich. Sie musste und muss immer wieder erlernt, erkämpft, gelebt und verteidigt werden.“ Dies könne nach Ansicht der Wissenschaftlerin besonders gut mit Planspielen eingeübt werden, etwa wie ein Gesetz der Europäischen Union zustande komme. Bei vielen Schülerinnen und Schülern wachse danach die Einsicht, dass Demokratie aus Diskussion, Argumentation und Kompromissen bestehe – und deshalb Zeit brauche.

Sorge vor wachsendem Antisemitismus
Oberlandeskirchenrätin Kerstin Gäfgen-Track, Bevollmächtigte der Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen, warb wie die Kultusministerin vor den Eltern dafür, mit den Kindern auch über schwierige Themen im Gespräch zu bleiben. Von ihrer Großmutter habe sie zentrale Botschaften mit auf den Lebensweg bekommen: Nie wieder Krieg! Alle Menschen sind Gottes Geschöpfe und haben die gleiche Würde. Dies gelte auch ohne Wenn und Aber für Jüdinnen und Juden, was aktuell offenbar nicht selbstverständlich sei. Neben all den dumpfen Hassparolen, die derzeit wieder zu hören seien, erschrecke sie vor allem eine Untersuchung, die besage, dass 27 Prozent aller Hochschulabsolventen mit einem Jahreseinkommen von mehr als 100.000 Euro antisemitische Gedanken hätten.

Gäfgen-Track verwies auf das neue Gütesiegel „Zusammen gegen Antisemitismus“, um das sich Schulen in kirchlicher Trägerschaft in Niedersachsen bewerben können. Die Schulen mussten dafür umfangreiche Konzepte einreichen, die ersten können in Kürze ihre Auszeichnung entgegennehmen. Initiiert haben das Gütesiegel die Konföderation evangelischer Kirchen in Niedersachsen und die Schulstiftung im Bistum Osnabrück. Sie freue sich, dass es Interesse gebe, die Auszeichnung landesweit für alle Schulen einzuführen, so die Oberlandeskirchenrätin.

Text und Bilder: Lother Veit / EMA
November 2023

 

Oberlandeskirchenrätin Kerstin Gäfgen-Track macht den Eltern Mut, mit ihren Kindern im Gespräch zu bleiben.